Eintrag zweiundzwanzig
Volcán Acatenango. Als es endlich vorbei ist, spüre ich vor allem Schmerz. Da sind zwar auch Erleichterung und Freude und Stolz. Aber in erster Linie tut mein Körper weh. Die Schultern, der Rücken, die Waden, die Füße, das blutende Knie, das sonnenverbrannte Gesicht. Ich kann daher nicht anders, als mir die elende Frage zu stellen: War es das wert?
Ziemlich genau 24 Stunden zuvor, gegen 11 Uhr am Donnerstagvormittag, stelle ich mir an derselben Stelle eine andere Frage: Ist das wirklich eine gute Idee? Ein Minibus hat uns gerade an den Beginn des Wanderwegs rauf auf den Acatenango-Vulkan gebracht. Rund 1.500 Höhenmeter bis zum Gipfel des Vulkans auf knapp 4.000 Meter liegen vor uns. Die Gruppe ist rund 30 Touristen und genau vier Tour Guides stark. Unser erstes Mitglied, Fabienne, verlieren wir nach einer halben Stunde. Sie stürzt und kehrt um. Von der Aussicht auf Kuscheln im Zelt und romantische Pärchenbilder über den Wolken muss ich mich also verabschieden. Ich mache trotzdem weiter.
Es ist heiß, der Rucksack, in dem sich auch Kleidung und Proviant für Fabienne befinden, ist jetzt schon zu schwer. Aber am schlimmsten ist der Untergrund, das bestätigen mir auch Menschen, die mehr Wanderfahrung haben als ich (also jeder, der schon mal eine ernstzunehmende Wanderung absolviert hat). Der Weg ist steinig und staubig, es ist eben ein Vulkan, den man sich hochquält. Mal sinke ich förmlich ein in dem kieselsteinartigen Geröll, mal ist es ganz glatt und elendig rutschig. Um mich herum labern die Leute, erzählen sich gegenseitig von ihrer bisherigen Reise und den Plänen für die nächsten Wochen und Monate. Ich bin ganz und gar mit mir selbst beschäftigt, konzentriere mich nur darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Auch Musik lenkt nicht ab, sondern nervt. Podcast (Gelaber!) probiere ich erst gar nicht. Immer wieder geht es mehrere hundert Meter steil bergauf. „So eine Scheiße“, entfährt es mir, als ich ein deutsches Paar aus meiner Gruppe überhole. Die beiden nicken. Weiter, immer weiter.
Ich merke schnell, der größte Fehler ist der Blick nach oben. Zu wissen, was noch vor einem liegt, entmutigt wahnsinnig. Also: Einen Fuß vor den anderen, der wichtigste Schritt ist immer der nächste. Da liegt mein voller Fokus drauf. Die Tabelle Der Gipfel interessiert mich zu diesem Zeitpunkt der Saison der Wanderung überhaupt nicht.
„Germany“ antworte ich einer, da bin ich sicher, sehr netten Frau während des Mittagessens. Aber auf Smalltalk habe ich auch in der Pause so gar keine Lust. Ich konzentriere mich auf den Reis mit Gemüse, esse meinen Apfel und versuche, dunkle Gedanken an schöne, unerreichbare Dinge (z.B. duschen, Bier trinken, befestigte Straßen) nicht zuzulassen. Noch zwei Anstiege liegen vor uns, behauptet einer aus der Gruppe, danach sei der Weg bis zum Base Camp größtenteils eben. Weiter, immer weiter.
Zwei Anstiege später brennen meine Waden ganz fürchterlich, die Schuhe an meinen Füßen (beschissene Nike Air Force, siehe Foto) könnten zum Vulkanwandern nicht ungeeigneter sein. Ich bin nassgeschwitzt und so langsam wird es kalt. Wir sind auf jetzt auf etwa 3.500 Meter. Die Temperatur beträgt schätzungsweise fünfzehn Grad, es ist also gut zehn Grad kälter als zu Beginn der Wanderung. Ich ziehe meinen Pulli über und freue mich auf die erste gute Nachricht seit langem: Der Mann hatte recht. Die letzte Stunde bis zum Base Camp auf 3,650 Meter ist vergleichsweise ein Spaziergang.
Am Camp angekommen ist die Aussicht überwältigend. Links die Wolkendecke, aus der rechts der Volcán de Fuego hervorsticht, der einzig noch aktive Vulkan, alle fünf bis zwanzig Minuten bricht er aus. Mal raucht er nur, mal spuckt er tatsächlich Lava. Einige entscheiden sich ernsthaft dafür, auch ihn zu besteigen, angeblich spüre man während der Eruption die ganze Kraft des Vulkans. Ich verzichte aus voller Überzeugung und wünsche mir bloß die Kraft eines alkoholfreien Weizens. Leider gibt es noch nicht einmal fließendes Wasser im Camp. Die Toilette ist ein Loch im Boden, der Schlafplatz ein Schlafsack in einem Zelt, das ich mir mit fünf weiteren Menschen teile. Während die Sonne langsam untergeht, friere ich zunehmend, in der Nacht sinkt die Temperatur unter den Gefrierpunkt und so langsam wird mir mein größter Fehler bewusst: Ich habe bloß eine Hose dabei. Sie reicht bis zu den Knien. Die Rettung sind vorerst eine Decke und das Lagerfeuer, über dem die Guides erstaunlich leckere Pasta kochen. Allmählich ist auch mir zum Reden zumute. Die anderen sind wirklich nett. Auf den herumgehenden Whiskey verzichte ich.
Die Nacht ist kalt, eng, schlafarm und sehr kurz. Um viertel nach vier wecken uns die Guides, in fünfzehn Minuten geht es los auf den Gipfel. Ich krabble aus dem Zelt, schlüpfe in meine verstaubten Schuhe, auf dem Kopf trage ich eine Mütze plus Stirnlampe, am Körper Shirt, Pullover, Jacke – und die kurze Hose. Ich friere. Der Anstieg zum Gipfel ist brutal. Es geht fast durchgehend steil bergauf, die Waden brennen sofort wieder, ich bin müde, es gab kein Frühstück. Zum ersten Mal denke ich an ernsthaft ans Aufgeben, auch wenn das natürlich bescheuert wäre. So kurz vor dem Ziel. Aber den Sonnenaufgang kann ich bestimmt auch vom Camp aus sehen. Und überhaupt: Was ist schon so besonders an einem Sonnenaufgang? Nicht ist alltäglicher. Ich reiße mich zusammen. Weiter, immer weiter.
Es ist 5:48 Uhr. Ich bin auf dem Gipfel angekommen. Bis die Sonne aufgeht, dauert es noch knapp dreißig Minuten. Ich sehne sie hierbei, aber nicht wegen der Aussicht, sondern weil ich völlig durchgefroren bin. Ich bin natürlich der einzige Schwachkopf mit kurzer Hose. Sähe ich sie nicht, wäre ich mir nicht sicher, ob meine Beine wirklich noch da sind. Ich esse mit großer Mühe einen Müsliriegel, auch meine Lippen spüre ich vor lauter Kälte und Wind kaum. Dann endlich geht die Sonne auf. Und ja, dieses Naturschauspiel ist bezaubernd. Wie sich die Sonne scheinbar durch die Wolken kämpft und langsam aber sicher für Licht und Wärme sorgt, ist wunderbar. Ich wünsche mir das erlösende Gefühl, dass sich der Schmerz, die Kälte, die Müdigkeit gelohnt haben. Aber es kommt nicht. Trotz der Morgensonne ist mir saukalt, ich bin erschöpft, mein Kopf tut weh und alles an mir ist dreckig.
Immerhin: Das mit der Temperatur erledigt sich dann doch recht schnell. Ich spüre meine Beine, mein Gesicht und meine Hände endlich wieder. Zurück im Camp gibt es ein Frühstückssandwich und ich döse noch ein wenig vor mich hin. Dass das schwierigste noch vor mir liegt, kann ich mir zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen.
Schon der Weg vom Vulkangipfel zurück zum Camp war nicht ohne, weil das Geläuf bergab umso rutschiger ist. Doch weil das Geröll so nah am Gipfel sehr tief ist, ist die Ausrutschgefahr gering. Das ändert sich mit dem richtigen Abstieg leider schlagartig. Meine inzwischen verhassten Schuhe bieten keinerlei Halt auf dem staubigen und furchtbar rutschigen Grund. Ob mir die Wanderstöcke wirklich Stabilität verleihen, weiß ich selbst nicht so genau. Nach rund der Hälfte des Weges passiert es: Ich falle. Das rechte Knie blutet, ich bin von oben bis unten voller Dreck und von jetzt an natürlich noch unsicherer. Das Mitleid und die Besorgnis der anderen („Are you okay? / „Geht’s?“) sind sicherlich gut gemeint, aber in dieser Situation leider überhaupt nicht hilfreich (Was, wenn nicht. Tragt ihr mich den Scheißvulkan dann runter?, denke ich und sage: „Ja, muss halt, ne.“) Weiter, immer weiter.
Ich rutsche noch zweimal aus, lande aber glücklicherweise auf dem Hintern. Ein sehr nettes Paar aus der Nähe von Stuttgart spricht es zwar nicht aus, passt aber offensichtlich auf mich auf; die beiden gehen mein Tempo mit, lassen mich nicht aus den Augen und bieten sogar an, dass wir Rucksäcke tauschen. Ihre sind leichter als meiner, der für zwei gepackt ist. Ich lehne ab. Es ist albern, aber ich habe jetzt den Ehrgeiz, die Wanderung so zu beenden, wie ich sie begonnen habe. Mit denselben beschissenen Schuhen, derselben kurzen Hose und demselben schweren Rucksack. Ich schaffe es. Um Punkt elf Uhr am Freitagvormittag bin ich am Ende. In jeder Hinsicht.
Bleibt noch die Kosten-Nutzen-Analyse. War es das wert? Ganz ehrlich: Keine Ahnung. Hätte ich gewusst, wie anstrengend das alles ist und dass ich es ohne Fabienne schaffen muss, hätte ich für diese 24 Stunden sicherlich eine sinnvollere Verwendung gefunden (z.B. duschen, Bier trinken, befestigte Straßen). Während ich auf den Bus warte, beobachte ich all die Menschen, die sich gerade auf den Weg zum Gipfel machen und verspüre in erster Linie Mitleid: Wenn ihr wüsstet, worauf ihr euch da eingelassen habt! Andererseits – habe ich‘s geschafft. Ich bin stolz auf mich. Ein schönes Gefühl. Zurück in Antigua gehe ich mit Fabienne ein Bier trinken und lege mich dann ins Bett. Ich schlafe, bis es Abend ist.